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26.02.2020

Einfühlsam und erhellend

Barbara Orth las im Lossehaus zur Kaufungen-Auswanderung

„Auf den vorhergehenden Seiten habe ich versucht, die Geschichte unserer Familie von Vaters Büchern, Notizen oder man könnte es auch Tagebuch nennen, zu übersetzen. Er hat es wahrscheinlich zwischen 1887 und 1914 geschrieben. Ich habe versucht, es in Vaters eigenen Worten zu übersetzen…“. notierte Louisa Wilhelmina Brethauer Borneman, geb. 1893 in Belleville/Illinois, im Vorwort eines englischsprachigen Schreibmaschinenmanuskripts. Über Umwege gelangte dieses im letzten Jahr in die Hände der Historikerin Barbara Orth. Sie hat den Text des 1854 dreijährig aus Niederkaufungen ausgewanderten August Brethauer ins Deutsche rückübertragen und aus diesem Anlass zur Kaufungen-Auswanderung im 19. Jahrhundert geforscht.

Die Kaufungerin las nun im Lossehaus aus dem daraus entstandenen Buch. Über sechzig Gäste waren gekommen, neugierig, wie Pfarrer Bormuth zur Begrüßung formulierte, was sie über das Leben der vor 170 Jahren Weggegangenen erfahren würden.

Barbara Orth ließ anfangs „Tante Lulu“ zu Wort kommen, die das Manuskript ja für die amerikanischen Kinder, Enkel, Nichten und Neffen lesbar gemacht hatte:

„Ich habe es [das Übersetzen] sehr gern gemacht und habe jeden Moment mit ihm durchlebt, da ich auch noch viele eigene Erinnerungen habe…“ und „Ich hoffe, Ihr habt beim Lesen so viel Freude, wie ich beim Übersetzen“.

Auszüge aus dem Tagebuch brachten August Brethauer und seine Familie auch den heutigen Zuhörern ganz nahe. Die Historikerin schilderte anschaulich, warum über fünfhundert Menschen zwischen 1830 und 1890 ihre prekäre Existenz in den Kaufunger Dörfern gegen die Hoffnung auf ein besseres Leben in Amerika eintauschten. Sie berichtete über Ausreiseorganisation als Wirtschaftszweig, über Reisewege und Reisekosten und die Anstrengungen des Unterwegsseins. Sie zeigte Anzeigen der Reiseagenten, Ansichten der Reisestationen oder ließ ein im 19. Jahrhundert weithin bekanntes Abschiedslied der Auswanderer erklingen. Auch auf den Untergang des Auswandererschiffs vor Spiekeroog (wenige Monate nach der Ausreise der Brethauers), bei dem zehn Kaufunger den Tod fanden, warf Barbara Orth noch einmal einen Blick: Sie hat herausgefunden, dass das Ehepaar Vollmer, dessen vier Kinder ertrunken waren, nach Oberkaufungen zurückkehrte und noch einmal ein Kind großzog. Nach dem Tod ihres Mannes machte sich Gertrud Vollmer 1860 mit ihrem kleinen Sohn ein zweites Mal auf den Weg nach Amerika. Sie hatte wohl keine andere Wahl …

Erschütternd war ebenso August Brethauers Schilderung eines Messerangriffs auf ihn als Sechsjährigen in der Ankunftsstadt Baltimore. Das Kind hat man im Krankenhaus gerettet, doch die Familie wurde von Freunden des Angreifers lebensbedrohlich drangsaliert, die Anklage fallen zu lassen. Vater Wilhelm blieb standhaft, der Angeklagte wurde verurteilt, aber die Niederkaufunger fühlten sich nun in der Großstadt ihres Lebens nicht mehr sicher. Mit geliehenem Geld fuhren sie nach Belleville/Illinois, wo Verwandte lebten. Hier wurden sie endlich heimisch. Barbara Orth zitierte noch einmal aus dem Manuskript des in Belleville Aufgewachsenen: „Vater sagte später oft, dass es ihm damals vorkam, als ob er wieder in Niederkaufungen sei. Das lag wohl daran, dass es hier mehr Deutsche als Amerikaner gab.“

Anhaltender Beifall.

Über August Brethauers Beobachtungen in der alten Heimat während zweier Europa-Besuche 1875 und 1912, wird Barbara Orth am 16. August berichten. Dann wird sie mit Interessierten auf seinen Spuren durch Niederkaufungen spazieren.

Wer es schon vorher lesen will: Das von der Gemeinde herausgegebene Buch ist im Regionalmuseum, im Rathaus, in der Niederkaufunger Post und im Kaufunger Buchhandel erhältlich.