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22.08.2011

Sternenreise


Eine musikalisch-literarische Sternenreise in der Stiftskirche


Als gegen 22 Uhr in der Stiftskirche die Lichter ausgingen und nur noch Sterne an den Wänden und ein Bild des Sternenhimmels auf einer Leinwand im Chor, in Szene gesetzt von Peter Zypries, zu sehen waren, herrschte bei Einsetzen des Orgelspiels von Bezirkskantorin Angelika Großwiele schon eine empfindungs- und erwartungsvolle Atmosphäre. Dekanin Carmen Jelinek, die auch durch den Abend moderierte, legte dar, dass Sterne als Symbole des Göttlichen verstanden wurden und verwies auf die Darstellung Heinrichs II. mit seinen Insignien und umgeben von einem Heiligenschein und Sternen. Daran habe sich auch die Künstlerin Karin Bohrmann orientiert, als sie für die 1000-Jahrfeier einen Sternenmantel entworfen habe, der unterhalb der Kaiserempore zu sehen sei. So lange die Erde stehe, hätten sich Menschen an Sternen orientiert und Botschaften in sie hineingelegt. Und sie beschwor das Bild des Kaiserpaares herauf, mit Heinrich im Sternenmantel, wie sie durch die Stiftskirche schreiten. Was könne passender zu dieser Vorstellung sein, als das Orgelstück „Die Ankunft der Königin von Saba“ von G. F. Händel. Man kann zwar davon auszugehen, dass Kaiser Heinrich II. und Kunigunde zu ihren Lebzeiten wohl während eines Besuches in der Stiftskirche keine Orgelmusik gehört haben: Allein durch die von Gott geschaffene menschliche Stimme sollte der Lobpreis Gottes erklingen, so Paulus, doch für die Menschen Heute gehört die sich seit der Gotik zum Hauptinstrument der christlichen Liturgie entwickelnde Orgel unbedingt zur Kirchenmusik, so dass man es sich durchaus vorstellen konnte.
Für den Rest des Abends setzte dann Reinhard Schimmelpfeng mit Obertonmusik die musikalischen Akzente. Er erklärte zu Anfang, was Obertonmusik sei: So wie sich Licht aus Spektralfarben zusammensetze, so sei die Obertonmusik die „Spektraltöne“, die reine Essenz des Klanges. Verschiedene Instrumente aus Ländern wie Indien, China oder Australien, würden diese Musik ganz besonders betonen. Dann gab er eine erste Kostprobe seiner nicht alltäglichen musikalischen Fähigkeit mit Variationen über Hildegard von Bingen, die auch Musik geschrieben habe. Unterstützt wurde sein Gesang von einer Shruti-Box, einer indischen Drehleier.
Die Töne der Obertonmusik schwebten durch das Gewölbe der Stiftskirche, schwerelos, geheimnisvoll und merkwürdig vertraut. Man schloss unwillkürlich die Augen, um sich diesem Empfinden intensiv hinzugeben. Füße scharren, hüsteln, wispern oder das Knacken von Stühlen waren dabei überlaut wahrzunehmen.
Zwischen den verschiedenen Obertonmusikstücken gab es literarische Kleinode, vorgetragen von Gisela Brackert und Bernd Hölscher. Sie reichten vom Schöpfungsbericht in der Genesis, über Goethe, Shakespeare, Matthias Claudius und Hans Carossa bis hin zu Ingeborg Bachmann. Besonders eindrücklich waren das Gedicht „Mondnacht“ von Joseph von Eichendorff, dessen bekannteste Zeilen „Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.“ wohl die meisten schon einmal gehört haben, aber auch „Ein neues Loblied“ (nach Psalm 19) des Astrophysikers Arnold Benz, in dem es unter anderem heißt: „In jedem Augenblick stirbt Altes, entsteht Neues, entwickelt sich die Welt.“
Den Abschluss des außergewöhnlichen Konzertes in der Stiftskirche gestaltete Reinhard Schimmelpfeng gemeinsam mit den Zuhörern, indem er sie aufforderte, mit ihm zu singen. Und tatsächlich: Nach seiner Vorgabe zogen bald „O’s“ und „A’s“ durch die Kirche, die miteinander verschmolzen und durchaus in die Nähe von Obertönen kamen.