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»Die Toten mahnen« Die Oberkaufunger Gedenkstätte für die Toten des Zweiten Weltkrieges - Pressebericht

Kriegerdenkmale, Ehrenmale und Gedenkstätten sind seit rund zweihundert Jahren Zeichen offizieller Erinnerung an vergangene Kriege. Sie spiegeln das gesellschaftliche Selbstverständnis ihrer Entstehungszeit. Für unsere demokratische Gesellschaft sind sie anschauliche Quellen für die politische Bildungsarbeit und Friedenserziehung.

Das Bürgerhaus Kaufungerwald erhielt an zentraler Stelle ein Mahnmal für die Opfer des Zweiten Weltkrieges. Die Botschaft der Kaufunger Gedenkstätte ergab sich – wie bei anderen Mahnmalen auch  – aus dem Zusammenspiel von ästhetischer Form, Inschrift und Standort. Der Bildhauer entwarf das Totenehrenmal als Mauerstück, um die Zusammengehörigkeit der Totenehrung mit der Architektur des neuen Gemeinschaftsbaus zu betonen. Einzelne Bronzeteile waren in diese Wand  hinein montiert: „Kopf, Bronzeguss, Relief Blume, Relief Inschrift u. Rahmen f. Kassette“ (Wilhelm Hugues). Die Schrecken des Krieges, Gedenken, Mahnung und Hoffnung wurden in den Einzelteilen des Oberkaufunger Mahnmals symbolisiert.

Die Klinkerwand

Die Mauer des Ehrenmals war quasi schwebend vor die Wände des Gebäudes gesetzt und damit herausgehoben, als Bild inszeniert. Die raue Oberfläche der gemauerten Wand mit den tiefen Schattenfugen und den ragenden einzelnen Metallteilen erinnerte an kriegszerstörte Hausruinen. Zugleich war der gebrannte Ton der Klinker ein Symbol der Erde, in der die Toten nun ruhen.

Im rechten unteren Bereich bogen sich die Klinker weich zurück und in den Reihen darunter in derselben Form nach vorn: Dadurch wuchs eine kleine elliptische Blumenschale aus der Wand, die Erde und Pflanzen („Immergrün“) aufnehmen sollte. Es war keine Vorrichtung für Kränzen oder Gestecken vorgesehen – vielmehr sollten lebende Pflanzen der Totenehrung dienen. Der Kreislauf von Leben und Tod war ein Grundmotiv von Hugues‘  Oberkaufunger Bildprogramm.

Der Soldatenschädel

Links unten ragte eine Maske mit tiefen Augenhöhlen und mit Stahlhelm  fast halbkugelig aus der Wand heraus. Totenkopf und Stahlhelm gehören zum Standardrepertoire der Kriegssymbolik seit dem Ersten Weltkrieg. Wilhelm Hugues allerdings setzte hinter die gebogene Bronzeplatte des Totenkopfes ein dreifußähnliches Bronzeteil, dessen Enden Mund- und Augenhöhlen füllen. So entsteht ein Gesicht. Hier, so die Botschaft, soll nicht der Rüstung, genauer: der Rolle des Kriegers gedacht werden, sondern des Menschen, der dieser Rolle zum Opfer gefallen ist.

Rose und Kreuz

Oberhalb des Kopfes befand sich eine flache, spitzwinklige Bronzeplatte, deren Symbole schwieriger zu entschlüsseln sind. Sie ist mit kleinen, wie aufgespachtelt wirkenden Flecken überzogen. Sollen sie die von der Kriegsmaschinerie aufgewühlte Erde darstellen? Abstrahiert sind in diesen Untergrund Stiel und Blätter einer Rose glatt eingetieft. Die Blütenblätter ragen in zwei fast halbkreisförmigen Bronzefingern oben über die Platte hinaus und rahmen dabei ein kleines Kreuz. Unten wächst aus dem Grund ein langer gebogener Streifen mit einer gerundeten Form als Abschluss. Ist es ein Blatt oder ein angewinkelter Arm? Der Künstler verzichtet auf Eindeutigkeit, die Formen changieren: Sind es Pflanzen oder doch eher emporgereckte menschliche Arme? Hugues greift hier Darstellungskonventionen der abendländischen Kultur auf; die Kombination von Totenschädel und Blumen symbolisiert Vergänglichkeit  bereits seit dem Dreißigjährigen Krieg.

„Die Toten des Krieges mahnen“ – Inschriftplatte mit aufklappbarer Tür

Das dritte Bronzerelief der Gedenkwand arbeitet noch deutlicher mit christlicher Symbolik. Die von den Kaufungern schmerzlich vermissten Angehörigen, Freunde, Nachbarn sprechen zu den Überlebenden. Sie aktualisieren das fünfte der Zehn Gebote als Friedensbotschaft:“ Du sollst nicht töten“. Hinter der Bronzetür befand sich eine tiefe Nische in der Klinkerwand, die das metallene Namenbuch aufnahm. Jeder, der wollte, konnte das Buch herausnehmen und darin lesen.

Mittelpunkt des Mahnmals: Das Namenbuch

Das ehemals in der Nische der Klinkerwand eingelegte Gedenkbuch besteht aus neun aneinander gelöteten kupfernen Doppelseiten. Bronzeringe arretieren die einzelnen Seiten an einem zylindrischen Behältnis, darin die maschinenschriftliche Namensliste. Heute kaum noch zu entschlüsseln ist eine abstrakte Strichzeichnung auf der rückwärtigen Buchseite – ein Engel? Einbezogenen ist ein Spruch: „PACEM IN TERRIS“ (Friede auf Erden, Lukas-Evangelium 2, 14, Weihnachtsgeschichte). Unter demselben Motto hatte Papst Johannes XXIII. 1962 eine Enzyklika veröffentlicht: „Über den Frieden unter allen Völkern in Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit“. Während in Berlin die Mauer gebaut wurde, die Kubakrise Mittelamerika erschütterte und einen neuen Krieg zwischen den Weltmächten näher rücken ließ, erregte diese politische Äußerung des Oberhaupts der katholischen Kirche zum Weltfrieden allgemein Aufsehen. Ausdrücklich bezog sich Johannes XXIII. auf die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1948. Hugues‘ Zeitgenossen haben die Zusammenhänge wohl verstanden.  

An wen wurde erinnert und in welcher Form?

In das Gedenkbuch konnten alle Oberkaufunger Einwohner – Alteingesessene wie Neubürger – ihre „Toten und Vermissten des Zweiten Weltkriegs“ eintragen lassen. Auch die durch Kriegseinwirkung im Dorf selbst umgekommenen Zivilpersonen wurden aufgenommen. 270 Personen sind mit Nach- und Vornamen, Geburtstag und -ort eingepunzt. Zu den Angaben „gefallen am, gestorben am, vermißt seit“ folgte eine Ortsangabe oder ein „Frontabschnitt/Truppenteil“. Orte in ganz Europa sind verzeichnet. Es war wohl nicht immer einfach, dem Massensterben des Zweiten Weltkriegs jedes individuelle Schicksal wieder abzuringen. Das Gedenkbuch konnte von Wilhelm Hugues nicht zum Volkstrauertag 1962, sondern erst 1963 fertiggestellt werden, weil die Namenslisten von der Gemeinde mehrfach ergänzt wurden.

Mit der Nennung des Namens sollte jedem, jeder Genannten die persönliche Würde zurückgegeben werden. Oft war dies die einzige, letzte mögliche menschliche Geste. Im modernen Massenvernichtungskrieg waren Menschen zu Kriegsmaterial gemacht worden. Die Bergung und Identifizierung der Millionen Leichen auf den Schlachtfeldern, in den bombardierten Städten, in den Lagern war kaum mehr möglich gewesen oder bewusst unterlassen worden.

Erinnern oder Vergessen? - Wandel der Wahrnehmung

Im Umfeld der 975-Jahrfeier der Gemeinde Kaufungen befasste sich eine Bürgerinitiative mit der Geschichte der Kaufunger Dörfer in der Zeit des Nationalsozialismus. Schnell wurde sichtbar, dass es weitere, andere Opfer gab, an die nun endlich ebenfalls öffentlich erinnert werden sollte. Die Gemeinde lud überlebende Verfolgte und Opfer-Angehörige ein. Ein Diskussionsprozess kam in Gang. 1986 beschloss das Gemeindeparlament, die Gedenkstätte im Bürgerhaus zu ergänzen. Seitdem wird an Heinrich Träbing und Siegmund Cohn auf der ersten Seite des Gedenkbuches erinnert – durch eine aufgesetzte Platte mit eingeschnittenen Buchstaben: „Namen der Opfer durch NS Misshandlungen unserer Gemeinde Oberkaufungen“.

Man hat in der Gemeinde kontrovers diskutiert, ob diese Opfer der nationalsozialistischen Diktatur in einer Reihe mit Personen genannt werden können, die als Privatpersonen oder Funktionsträger des NS-Staates (auch) Täter gewesen waren: „…Eine Gedenkstätte, die den Kriegstoten gewidmet ist, kann nicht der Ort sein, an dem des Widerstands gegen den Faschismus gedacht wird“, schrieb Richard Kallok in einem  Brief an Mitarbeiter und Freunde des Antifaschistischen Arbeitskreises am 21.9.1986. Das Gemeindeparlament entschied sich dennoch für eine Ergänzung. Bürgermeister Gerhard Iske begründete diese anlässlich der Kranzniederlegung an der Mahnmalwand zum 50. Todestag von Heinrich Träbing am 11.10.1986: „ …Viele Kaufunger haben in der Zeit zwischen 1833 und 1945 ihr Leben lassen müssen, für eine Sache, die sicherlich nicht immer die ihre war. Die Namen, auch der von Heinrich Träbing und – inzwischen nachgetragen – der von Siegmund Cohn (dem Oberhaupt einer jüdischen Familie in Oberkaufungen), der im Konzentrationslager Theresienstadt ums Leben kam, sind in diesem Kupferbuch („Namen der Kriegsopfer unserer Gemeinde Oberkaufungen“) festgehalten, welches seit der Errichtung des Bürgerhauses 1962 in der dafür gestalteten Gedenkstätte Aufnahme gefunden hat. Es enthält auch einige Namen von Kriegstoten, von denen vermutet wird, daß sie das Nazi-Regime aktiv unterstützt haben und sie damit indirekt und moralisch eine Mitschuld am Tode von Heinrich Träbing und manchem seiner Leidensgenossen tragen könnten. Doch wollen wir hier nicht richten und sehr vorsichtig mit Schuldzuweisung sein. Deshalb bin ich der Witwe von August Cohn und Herrn Paul Träbing sehr dankbar für ihre Erklärungen, daß sie diese Kapitel menschlicher Schuld für abgeschlossen halten, vor allem auch denjenigen gegenüber, die heute als Nachfahren unter uns leben und in keiner Verbindung zum Naziregime standen.

2009 hat man das Mahnmal – im Zuge wiederholten Umbaus des Gebäudes zum heutigen Rathaus Kaufungen – niedergelegt. Einzelne Bronzeteile der Denkmalwand wurden dem Regionalmuseum übergeben.

Es bleiben Fragen: Will man, soll man, kann man das Mahnmal andernorts wieder aufbauen? Darf man 100 bzw. 60 Jahre nach den Weltkriegen „endlich vergessen“? Möchten oder müssen wir Erinnerungsmale – politische Kunst im öffentlichen Raum – in unserem Lebensumfeld aushalten? Möchten oder müssen wir auch „unbequeme Denkmale“ (Thema des Denkmaltags 2013) als Denkanstöße schützen und nutzen? Machen Gedenkstätten heute noch Sinn? Gibt es heute andere Weisen, andere Orte offiziellen Gedenkens an Krieg und Diktatur? Haben wir heute andere Fragen an die Geschichte?